Irene Albers
Ein Abecedarium im Geiste Oulipos
Das Dictionnaire de l′Acadèmie française definiert „abècèdaire“ als „livre où l′on apprend les rudiments de la lecture à partir des lettres de l′alphabet“, also als „Buch, in dem man die anhand der Buchstaben des Alphabets die Grundlagen des Lesens lernt“. Die Reihenfolge der Buchstaben des Alphabets ist eine reine Konvention, die der Liste eine künstliche und willkürliche Ordnung verleiht. Das Alphabet hat keinen „Sinn“. Die Ordnung der Dinge wird der unsinnigen Ordnung der Buchstaben untergeordnet. Die Wörter, die meistens als Beispiele gewählt werden – A wie Affe, B wie Boot, C wie Clown, D wie Dose, E wie Elefant – haben einfach, konkret und anschaulich zu sein. Die Bilder, die man in den ABC-Büchern findet, sind nur wörtliche Illustrationen der Gegenstände, die den Schülern beibringen, sich die Büchstaben zu merken oder den Kindern helfen, die Wörter zu lernen (bei den heute meist mit Photographien illustrierten ABC-Bilderbüchern für Kleinkinder). Die Parodie dieses pädagogischen Modells hat eine lange Tradition. Man denke an die Surrealisten und an die Autoren der Gruppe „Oulipo“ („Ouvroir de littèrature potentielle“), an das Dictionnaire des idèe reçues (1879) von Flaubert (Wörterbuch der Gemeinplätze), an das unübersetzbare Glossaire, j′y serre mes gloses (1939) von Michel Leiris oder das Devil′s Dictionary(1911) von Ambrose Bierce, an die Listen von Georges Perec oder an die alphabetisch geordnete Autobiographie von Roland Barthes: immer geht es auch darum, die bestehenden Verbindungen von Buchstaben, Wörtern und Ideen aufzubrechen. Das Abecedarium von Jeanne Fredac gehört zu dieser ludistischen Gattung der literarischen Vokabellisten und Anti-Wörterbücher, in denen die spielerische Mimesis an die Konventionen der Gattung dazu dient, die kulturellen Gemeinplätze bewußt zu ver-lernen und zu unterlaufen.
Für das, was Jeanne Frèdac hier vorlegt, ist das Beispiel von Leiris besonders aufschlußreich: Mit Glossaire, j′y serre mes gloses und in Mots sans mèmoire (1969) – „Wörter ohne Gedächtnis“ – hat der Schriftsteller, Ethnograph und Surrealist das Paradox eines absolut individuellen Wörterbuchs geschaffen, eines idiosynkratischen Glossars. Er nimmt als Ausgangspunkt „die Wörter, die mich verführten“, um ihnen eine neue Definition zu geben, es gewissermaßen neu zu erfinden. Wenn das normale Lexikon das kollektive Gedächtnis der Sprache speichert, um seinen Benutzer den Gebrauch und die Bedeutung der Wörter zu lehren, so erfindet Leiris seine individuellen Wortbedeutungen ausgehend von Wortspielen, welche häufig die materiellen Eigenschaften des Wortes, seine phonetische und graphische Gestalt zum Ausgangspunkt nehmen: so wird aus „morphine“ eine „mort fine“ (ein „feiner Tod“) und aus „Occident“ ein „accident“ („Unfall“). Mit seinem „Vergnügen daran, die Sprache zu stören“3 befreit er die Worte und Buchstaben und ermöglicht auf diese Weise die individuelle Aufladung. Das Ziel ist aber nicht ein besserer „Ausdruck“ des Selbst; vielmehr geht es um ein Spiel, das, wie Leiris gerne betont, noch auf der Suche nach seinen Regeln ist, um ein Experiment, das der Autor selbst als Beobachter begleitet: „die Würfel der Sprache in einem Becher zu schütteln, damit Entwürfe heraussprangen, statt mit ihnen schon vorhandene Gedanken auszudrücken“.4 Das Unternehmen von Jeanne Frèdac entspricht diesem Vorgehen und ergänzt das sprachliche Experiment zugleich um ein photographisches, um ein Experiment mit den Beziehungen von Sprache und Bildern als Darstellungen eines ICH. Und ganz wie Leiris scheint sie sich für das zu interessieren, was der französische Autor als „gauchissement“ bezeichnet, als Verbiegen, Verziehen und Sich-Verwerfen der Regeln, für die Alteration der Beziehungen zwischen Sprache, Photographie und Selbstportrait.
Indem sie ausgehend von einer Vokabelliste gearbeitet hat, die sie offensichtlich vorher erstellt hatte, hat sich Jeanne Frèdac einer rigiden Spielregel unterworfe: das Photo machen, das dem Wort „entspricht“. Im Geiste von Oulipo, des 1960 von dem Schriftsteller Raymond Queneau und dem Mathematiker François Le Lionnais begründeten „Ouvroir de littèrature potentielle“ – auf den sie sich bei dem Buchstaben O wie „Ouimpo“ bezieht – aber auch im Sinn der Photoaktionen von Sophie Calle, benutzt sie die „contraintes“, also künstliche formale Zwänge als Triebkraft des Kreativen, kreativ wie die wuchernden Farne, die man auf dem Photo erkennen kann (S.##). Ihr Abècèdaire soll demnach eine „Werkstatt für potentielle Bilder“ sein, ein „Ouvroir d′images potentielles“ („Ouimpo“), gehört damit zu den sogenannten „Ou-X-Po“, die sich Raymond Queneau und François Le Lionnais als Erweiterungen des literarischen Projektes ausgedacht haben. Man könnte das Buch von Jeanne Frèdac einer Gruppe namens „Ouphopo“ vorschlagen, die sich seit 1995 speziell den oulipistischen Möglichkeiten des Medium widmet: „der spezifische Forschungsgegenstand dieser Werkstatt ist die Photographie ausgehend von formalen Zwängen“, heißt es auf der offiziellen Website dieser Gruppe (www.ouphopo.org)5. Aber im Gegensatz zu dieser ludistischen Form von Photographie und auch im Unterschied zu dem, was eine virtuelle Gemeinschaft auf den Internetseiten „l′ABCdaire photo“ praktiziert6, beschränkt sich Jeanne Frèdac mit ihrem Abècèdaire nicht auf eine abstrakte Stilübung, denn es gibt einen roten Faden: das Selbstporträt. Das bringt den Leser und Betrachter dazu, die ludistische Konstruktion der Ausgangssituation – ein Wort für jeden Buchstaben des Alphabets auswählen, um 26 Photos zu machen – im Rahmen eines autobiographischen Projektes zu verstehen, in dem das Spiel etwas hervorbringen soll, das nicht einfach dargestellt oder abgebildet werden kann: das Selbstporträt der Photographin. Die Auswahl der Wörter und Bilder ist also motiviert: ganz wie bei Leiris sind Leser und Betrachter aufgefordert zu unterstellen, daß Jeanne Frèdac in ihren Augen besonders „verführerische“ und bedeutsame Wörter ausgewählt hat, um sie mit ihren Bildern in Beziehung zu setzen. Bei dem Spiel, dem es nicht an Humor fehlt, ein Humor, dessen Auswirkungen auf die Lachmuskeln man im letzten Bild (Z wie „Zygomatiques“) sehen kann, steht etwas auf dem Spiel, es soll etwas über ein Ich zutage fördern, das sich nicht einfach zur Schau stellen und entblößen will.
Das Selbstporträt im Spiegel: „mich darstellen mit 26 Wörtern und Photographien“
A wie „Autoportrait“: eine Gattung der Malerei, der Literatur und natürlich auch der Photographie, das Selbstporträt des Photographen. Es gibt wenig bekannte Photographen, die sich nicht selbst porträtiert haben. Das Selbstporträt ist nicht unschuldig, zu viele Modelle drängen sich auf. Jeanne Frèdac hat eine überzeugende und sympathische Lösung gefunden. Sie hat die klassische Variante eines Selbstporträts im Spiegel gewählt (das erinnert unter anderem an die Selbstporträts von Ilse Bing [ 1931] und Gisèle Freund [1935, 1950]), aber in ihrem Bild sieht man nicht die Kamera, die offensichtlich auf einem kleinen Wandtisch außerhalb des Bildes steht. Das bewirkt, daß der Blick des Apparates nicht dem ihrer Augen entspricht, sondern auf einen anderen Ort außerhalb des Bildraums verweist. Es gibt also eine Differenz zwischen dem Blick der Photographin und dem Auge der Kamera, eine wohlbedachte Differenz, welche die Tatsache unterstreicht, daß es im Zentrum des Selbstporträts etwas gibt, das sicht nicht dem Autor selbst verdankt. Indem sie den Auslöser betätigt, photographiert sie, was sie nicht sieht, sondern, was das Objektiv „sieht“. Außerdem zeigt dieses Selbstportrait drei Spiegel, die sich in einem engen und geschlossenen Raum gegenseitig spiegeln. Auf diese Weise zeichnet die Photographie eine Mutiplikation von Selbstbildern auf und verbindet die verschiedenen Ansichten (der Kopf von vorne und von hinten), statt eine vorab konstituierte „Identität“ zusammenzufassen. Es gibt imAbècèdaire noch andere Spiegelbilder (das von „Joker“ im Bullauge der Waschmaschine und das von „Solitude“), wo die spiegelnde Oberfläche das, was sie reflektiert nahezu ganz zerstört und auflöst, wo man kaum noch in der Lage ist, die Photographin, die die Kamera in der Hand hält, wiederzuerkennen. Jeanne Frèdac posiert hier als als flüchtiges Subjekt, sie erscheint, um zu verschwinden. Sie läßt sich nicht von der Sorge um „ähnlichkeit“ leiten. Statt des narzißstischen Spiegels, der Photographie, welche die Funktion hat, der Selbstliebe zu schmeicheln , benutzt sie die Spiegel, um die Vervielfältigung eines Selbst zu zeigen, daß sich eigentlich der Abbildung entzieht. Und gibt es nicht auch hier etwas Spielerisches? Mit der Haltung ihres Körpers und ihrer Arme, scheint sich Jeanne Frèdac in den Buchstaben „A“ zu verwandeln, die graphische Form des Buchstabens zu verkörpern. Ein Subjekt, das aus dem „Spiegelstadium“ heraustritt in die symbolische Ordnung der Sprache. Die Identität ist kein Bild.
Ausgehend von diesem ersten Bild kann man das ganze Abècèdaire als „Autoportrait“ verstehen. In der literarischen Tradition des Selbstporträts, hat es sich immer der Autobiographie entgegengesetzt, als der Gattung des Geständnisses, des Exhibitionismus, der chronologischen Erzählung eines Lebens, genau wie sich Jeanne Frèdac mit ihrem Werk der „pornographischen Ausstellung des Selbst im Internet“ entgegenstellt, über die sie sich mit ihrem Photo „X“, auf dem man den behaarten Euter einer Ziege in Großaufnahme sieht, lustig macht. Während bei MySpace die Selbstentbößung und der Wunsch nach Authentizität dominieren, zeigt die literarische Gattung des Selbstporträts (von Montaignes Essais bis zuRoland Barthes par Roland Barthes und zum Abècèdaire von Gilles Deleuze) ein Selbst, das sich nicht selbst gehört; es (de-)konstituiert sich erst, indem es sich die Gemeinplätze und Themen der Sprache und der Kultur aneignet. In L′Abècèdaire de Gilles Deleuze (1988/1996), hat der Philosoph sich auf das Spiel, das ihm seine Schülerin und Freundin Claire Parnet vorgeschlagen hatte, eingelassen: ein gefilmtes Interview über 26 alphabetisch geordnete Themen von „A wie Animal“ bis zu „Z wie Zigzag“ über „K wie Kant“ und „Q wie Question“. Der Spiegel des Subjektes ist hier immer auch ein Spiegel der Welt und umgekehrt. Der Autor eines Selbstporträts hat nichts zu verbergen und nichts zu gestehen. Michel Beaujour hat in seinem Buch Miroirs d′encre (Paris: Seuil 1980) die charakteristische Form dieser Gattung beschrieben: Ihm zufolge entsteht die Kohärenz der Autoportrait „dank eines Systems von Wiederholungen, überlagerungen, Korrespondenzen zwischen homologen und ersetzbaren Elementen, so daß seine wichtigsten Verfahren die der Diskontinuität, der anachronistischen Gegenüberstellung und der Montage sind.7 ImAbècèdaire von Jeanne Frèdac betrifft die Montage zwei verschiedene Medien, sie schafft ein intermediales Selbstporträt das zugleich minimalistisch statt geschwätzig ist, wie eine Schwundstufe des üblichen Selbstporträts: alles ist in den 26 Wörtern und den 26 Photographien. Alles und nichts.
Die Ordnung der Wörter
Die erste Frage, die sich stellt, ist diejenige nach der Auswahl der Wörter, denn es ist die Erstellung der alphabetischen Liste, die am Anfang desAbècèdaire steht. Die Form des ABC-Buches verlangt (das ist im Sinne Oulipos der „formale Zwang“) für jeden Buchstaben des Alphabets die Selektion eines exemplarischen und emblematischen Wortes. Es gibt auch psychotherapeutische Spiele, die so verfahren: man soll das Alphabet als Ausgangspunkt nehmen und dann Worte suchen, mit denen man sich identifiziert, die das verborgene Selbst ausdrücken, ein verdrängtes Unbewußtes zur Sprache bringen. In diesem Rahmen eines alphabetischen Selbstportraits („autoportrait abècèdaire“) eines „Atelier d′ècriture“ im Internet, geht es darum, jeweils ein Wort zu finden „das mich symbolisiert, von mir spricht“. Es entstehen dann Listen wie „A comme Amour, B comme Bèbè, C comme Cœur, D comme Douce, E comme èmotions…P comme Pleurs…Z comme Zen.“8 Man sieht gleich das Problem: die Aufgabe provoziert Listen von Klischees und Gemeinplatzwörtern. Statt ein Ich zu „symbolisieren“, findet man hier Ansamlungen von „idèes reçues“, die Flaubert begeistert hätten. Bei Jeanne Frèdac dagegen ist die Auswahl der Lexeme nicht so einfach zu dechiffrieren. Sie macht deutlich, daß es um den Akt und das Spiel der Auswahl geht, nicht um „Ausdruck“. Die Liste ist systematisch zufällig und inkohärent:
Autoportrait, Banlieu, Complicitè, Dèsir, èvasion, Force et Faiblesse, Germain, Harakiri, Insomnie, Joker, Kafkaiën, Lègende, Mouvement, Napolitain, Ouimpo, Passion, Quand?, Rage, Solitude, Travail, Urgence, Vagabonde, Walhalla, X, Yèti, Zygomatiques
(Selbstporträt, Banlieu, Komplizenschaft/Gemeinschaft, Begehren, Evasion, Stärke und Schwäche, Germanisch/ [Vetter/Cousine] ersten Grades / leiblicher [Bruder], Harakiri, Schlaflosigkeit, Joker, Kafkaesk, Legende/Bildunterschrift, Bewegung, Napolitanisch, Ouimpo, Leidenschaft/Passion, Wann?, Wut, Einsamkeit, Arbeit, Dringlichkeit/Notfall, Vabagundin, Walhalla, X, Yeti, Jochbeinmuskeln)
Die Liste vermischt konkrete (wenn auch kaum Konkretes vorkommt) und abstrakte Bezeichnungen, Wörter und Namen, banale und seltene Wörter, Substantive und Adjektive; sie enthält doppelsinnige Wörter, Fremdwörter, Neologismen und wissenschaftliche Termini. Man könnte das Spiel mitspielen und daraus Sätze formen oder nach einen System suchen, nach einer verborgenen Ordnung, die von der alphabetischen Anordnung durcheinander gebracht wird. Ein Strukturalist würde vielleicht semantische Felder erkennen wie „Orte und Länder“ – Italien („Napolitain“), Deutschland („Walhalla“, „Germain“) und Frankreich („Banlieu“) – ein Feld, das sich mit dem von „Vagabundieren“ und „Evasion“ verbindet und mit demjenigen der Emotionen und Affektivität des Subjektes („Complicitè“, „Dèsir“, „Force et Faiblesse“, „Passion“, „Rage“, „Solitude“, „Zygomatiques“). Aber, ohne daß diese Beobachtungen falsch wären, die Liste ist weit davon entfernt, ein vagabundierendes Leben zwischen Paris, Berlin und Neapel (und der Auvergne) oder ein besonders affektives Individuum zu „symbolisieren“. Es bleibt dabei: Die Logik der Auswahl widersteht der Analyse und vermutlich auch der Psychoanalyse. Man muß das anders angehen. Die Liste ist als ludistisches Experiment zu verstehen, die Fragmente einer Identität überhaupt erst hervorbringt, statt sie „auszudrücken“. Es geht um die Effekte, die diese Auswahl haben kann. Um das kreative Potential der formalen Zwänge. Zudem konfrontiert dieses Verfahren den Leser und Betrachter mit seiner eigenen Neugier auf das, was die isolierten Wörter und Bilder nur verbergen können, mit seinem Begehren, in diesem „Autoportrait“ etwas anderes zu entdecken, als seine eigenen Projektionen. Und wenn Jeanne Frèdac die Wörter ohnehin nur ausgewählt hätte nach ihrem Potential sie zum Photographieren zu animieren? Im Reich von Oulipo ist alles möglich.
Die Ordnung der Bilder
Wenn man die Bilderfolge des Abècèdaire ohne die dazugehörigen Lexeme betrachtet, zeigt sich wie schon bei den Wörtern die Heterogeneität der Bilder, auch wenn man auf der Ebene der Motive Gruppen bilden kann: So ergibt sich schnell eine Gruppe von Stadtmotiven („Banlieu“, „Desir“, „Germain“, „Insomnie“, „Lègende“, „Napolitain“, „Quand?“, „Vagabonde“) die vor allem Paris und Berlin (und Neapel) zeigen. Diese städtischen Orte sind den Bildern mit ländlichen Motiven entgegengesetzt („èvasion“, „Ouimpo“ mit dem Ortsschild von Valcivières/Auvergne, „Urgence“). Die Tierbilder (die Kuh und die Ziege von „Force et Faiblesse“ und „X“) sind ebenfalls ein Teil dieser ländlichen Motivgruppe. Auf einem anderen Ensemble von Bildern sind Gesten zu sehen (das Rollen einer Zigarette in „Kafkaien“, das Schreiben in „Mouvement“, das Lachen in „Zygomatiques“). Auffällig ist, daß es wenig echte Porträtaufnahmen imAbècèdaire gibt (die Familie ist nicht Teil dieses Selbstporträts einer „Vagabundin“), mit Ausnahme die (irritierend direkten) Portraits der Frau, die die Narben ihrer Selbstverletzungen zeigt, in „Rage“, des Yeti-Menschen, der nur von hinten zu sehen ist, der lachenden Frauen auf dem letzten Bild des Buches und der Frau, die die Zigarette rollt. In jedem Fall handelt es sich um partielle, abgeschnittene und gleichsam versehrte Porträts, denen es nicht primär um die ähnlichkeit der Abbildung geht. Man kann hier bei Jeanne Frèdac die Tendenz erkennen, den photographischen Akt sichtbar zu machen, den räumlichen und zeitlichen Schnitt, der ihn ausmacht.9 Diese Selbstreflexion des photographischen Mediums bestätigt sich in der Serie von Aufnahmen mit spiegelnden Oberflächen („Autoportrait“, die Waschmaschine in „Joker“, der Spiegel von „Solitude“) und vor allem in den Bildern, deren Referent nicht einfach zu identifizieren ist („Walhalla“), oder selbst bei langer Betrachtung rätselhaft bleibt („Passion“: der Eingang eines Tunnels? Ein Wassertropfen auf einem Spiegel?) sowie in den Bildern, die (zum Teil lesbare) Schrift zeigen (das Notizheft von „Mouvement“ und der Kalender von Harakiri). Die Photographien sind jeweils nur Fragmente des „Lebens“ der Photographin, ihrer Begegnungen, Reisen, Aktivitäten und Notizen, materielle Spuren der Orte, die sie besucht hat während des Spiels, als dessen Resultat wirAbècèdaire in den Händen halten.
Der Eindruck von Heterogeneität resultiert auch von der Machart der Photographien: man findet hier nebeneinander scharfe und unscharfe Bilder, Momentaufnahmen und gestellte Bilder, technische Manipulationen (wie die doppelten Belichtungen von „Complicitè“ und „Ouimpo“) und „direkte“ Bilder, Einzelbilder und Serien („Vagabonde“), Nachtbilder im Stil von Brassai („Dèsir“, aber vor allem die Bilder von Berlin: „Germain“, „Insomnie“, „Lègende“, „Quand?“) und abstrakte Kompositionen, Aufnahmeperspektiven, die an das Neue Sehen erinnern („Walhalla“) und an die „subjektive“ Photographie („Urgence“, wo das berühmte Bild des eigenen Wahrnehmungsfeldes von Escher nachgestellt zu sein scheint), etc. Wenn es dennoch eine formale Einheit gibt, dann ist sie auf die einheitlich schwarz-weißen Aufnahmen und auf die analoge Technik im Zeitalter des Digitalen zurückzuführen. Die Bilder von Abècèdaire erinnern nicht von ungefährt an die ästhetik der sogenannten „fotopovera“ oder der „fautographie“ seit den 80er Jahren, die man unter anderem bei Robert Frank findet oder bei Bernard Plossu, eine Photographie, die eine in den Regeln der „Qualität“ und der „technischen Beherrschung“ erstarrte Photographie infrage stellt.10 Man kann den Stil der Bilder von Jeanne Frèdac im Sinn dieser Richtung verstehen; bei anderer Gelegenheit hat sie auch mit selbstgebastelten einfachen Kameras photographiert; es geht um die systematische Unterbietung der uns umgebenden Hochglanz- und Hightechbilder, darum absichtlich „defiziente“ Aufnahmen zu produzieren, Fehler, anders gesprochen und positiv gewendet: visuelle Entdeckungen und Erkundungen im Bereich potentieller (Selbst-)Bilder. So zählt fürAbècèdaire nicht die Einheit eines „Stils“, was zählt ist vielmehr die Einheit des Vorgehens, des Experiments, das die Ausgangssituation darstellt: ein Buchstabe generiert ein Wort, das ein Bild generiert, um ein Werk zu produzieren, das ein „Selbstporträt“ darstellen soll. Als wären alle Photographien von Jeanne Frèdac hier Selbstporträts, auch dort, wo sie sich außerhalb des Bildes befindet. Was passiert nun zwischen den Buchstaben, den Wörtern und den Bildern? Man muß sich noch einmal auf das Versteckspiel einlassen, um sich darin zu verlieren.
Zwischen den Wörtern und den Bildern
Wenn man die Serie der Wörter und die Serie der Bilder vergleicht, sieht man sofort, daß es auf der Ebene der Bilder keine Entsprechung zu dem Wortfeld des Affektiven gibt. Die Mehrheit der Lexeme sind abstrakt, denotieren Konzepte und Ideen, also Entitäten, die sich nicht einfach in einem Bild darstellen lassen. Wie soll man „Passion“, „Desir“, „Urgence“, „Kafkaien“ illustrieren mit photographischen Bildern, die (im Gegensatz zur traditionellen Emblematik) immer ikonisch sind und zugleich Spuren eines Realen? Und man darf nicht vergessen, daß das Verfahren hier nicht darin besteht, eine abstrakte Legende für eine bereits existierende Photographie zu finden (um sie auf eine andere Ebene zu bringen, ihr eine Bedeutung jenseits der ikonischen Referenz zu verleihen), sondern darum, mit der Kamera eine Aufnahme zu machen, welche die abstrakten und unsinnlichen Begriffe „illustrieren“ oder „definieren“ kann. So wie Leiris andere Definitionen gesucht hat, um ein Wort zu glossieren, dienen die Bilder von Jeanne Frèdac dazu, dem Wort eine neue Bedeutung zu geben, um sie neu zu erfinden und den normalen Sinn des Wortes umzulenken: analog zu Leiris könnte man von „Bildern ohne Gedächtnis“ sprechen.Abècèdaire hat deshalb nichts von einem Photoalbum, das der Bewahrung der Erinnerung (der familären oder individuellen) dient. Das Vorgehen hier transformiert auch die Photographie, die in diesem Fall nicht dazu dient Erinnerungen zu erzeugen (billige „Souvenirs“) sondern Metaphern.
Der Photograph und Schriftsteller Denis Roche spricht in seinen Interviews mit Gilles Mora von seinem Wunsch „in die Photographie etwas einzuführen, was aus der Metapher stammt“.11 Er zitiert die Definition der Metapher aus dem Petit Robert: „Sprachliches Verfahren, das darin besteht im Rahmen einer analogischen Ersetzung einen konkreten Begriff in einem abstrakten Kontext zu benutzen, ohne daß es einen expliziten Hinweis auf einen Vergleich gibt.“12 In seinen eigenen photographischen Arbeiten integriert Roche „das Abstrakte in einen konkreten Zusammenhang“ (S. 85), indem er spiegelnde Oberflächen photographiert, Fenster, Spiegel, gebrochenes Glas, etc.. In Abècèdaire, wo es auch solche Bilder gibt, entstehen die Metaphern dagegen aus der Konjunktion eines abstrakten und allgemeinen Wortes (Dèsir, Passion, Solitude, Urgence, etc.) und eines konkreten und individuellen Bildes, als würde das Bild die Visualisierung des Konzeptes darstellen. Aber sobald man versucht, diese Analogien zu verbalisieren – „das Begehren ist ein unterirdischer Kanal“ oder „Die Evasion ist eine geöffnete Tür“ – stößt man an die Grenzen des Mediums Sprache, denn das Bild, was das Wort definieren soll, läßt sich nicht auf Sprache reduzieren. Auch eine ausführliche Bildbeschreibung würde das Problem nicht lösen können. Man denkt an das, was Roland Barthes von der paradoxen Beziehung zwischen Sprache und Photographie gesagt hat: während für das Photo gilt: „es kann nicht sagen, was es zeigt“, kann die Sprache nicht beweisen oder zeigen, was sie sagt.13 Auf diese Weise bringt die Kombination der alphabetisch angeordneten Lexeme und der Photographien in Jeanne Frèdacs Abècèdaire ein Hin-und-Her zwischen zwei autonomen und nicht ineinander übersetzbaren Assoziationsräumen hervor. Der Leser und Betrachter wird zum Spielball seiner eigenen Projektionen, gefangen von einer unlösbaren Puzzleaufgabe. Das kleine alphabetische Wörterbuch lehrt uns das Idiom von Jeanne Frèdac, ohne uns die Schlüssel zur Verfügung zu stellen, die man haben müßte, um es als Selbstporträt verstehen zu können. Auf diese Weise präsentiert ihr Buch uns ein Spiel, in das jeder potentielle Leser sich einsetzen kann, nicht in den (sehr idiosynkratischen) Inhalt aber in seine Regeln.
Neapel
In ihrem Text „L′œil de la seiche“ („Das Auge des Tintenfisches“) vergleicht Jeanne Frèdac Neapel mit einer Orange: „Avant de la dèguster, il convient avant tout d′en regarder le sens et de choisir le bon, puis il faut en taillarder l′ècorce assez profondèment, mais sans effleurer de la lame l′ultime peau translucide qui protège la pulpe d′un èpanchement inutile, puis l′èplucher, ne lui laisser comme rempart que ses dessous diaphanes, dètailler ses quartiers un à un, les croquer sans retenue l′un après l′autre, laisser leurs diffèrentes saveurs – ils ont chacun la leur -, se mèlanger dans votre bouche, l′acidulè envelopper le sucrè avant de jouter avec l′amer dans une farandole où les contrastes se succèdent et les rôles s′interchangent.“14 In dieser Beschreibung ist das Bemühen um eine Ritualisierung alltäglicher Verrichtungen und Handlungen zu erkennen. Es ist kein Zufall, wenn Jeanne Frèdacs Aufnahmen von Neapel die Faszination der Photographin von den Prozessionen und der „Volks“-Religion dokumentieren. In „L′Occhio de la seppia“ kann man auch ein Porträt ihrer selbst lesen im Spiegel dieser ungreifbaren Stadt, die zugleich tragisch und komisch ist, wo das Sakrale und das Profane sich im großen Theater der Straße berühren. Wenn Jeanne Frèdac sich bemüht hat, sich Neapel mit ihrer Kamera so zu nähern, daß es dem Ritual des Zerschneidens und Essens einer Orange gleichkommt, so nähert sie sich in ihrem Abècèdairesich selbst mit den gleichen Vorkehrungen und dem Bemühen, sich einer Reihe ritueller Regeln zu unterwerfen. In Ermangelung der Teilhabe an einer religiösen Gemeinschaft, welche die Rituale praktiziert, die sie in Neapel photographieren konnte, hat sie sich ihr eigenes profanes Ritual erfunden: das Spiel eines photographischen Selbstporträts, mit seinen formalen Zwängen und Grundregeln. Zusammenfassend kann man sagen, daß ihr Buch im Rahmen einer Photo-Kunst zu verorten ist, die unabhängig von der unbestreitbaren ästhetischen Qualität ihrer Bilder an der Performancekunst teilhat, an der Inszenierung und Ritualisierung des photographisches Aktes. Geniessen wir diese schöne Orange nach den Regeln, die Jeanne Fredac uns vorgeschlagen hat.
Irene Albers ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin. Sie hat Bücher und Aufsätze über die literarische Rezeption der Photographie veröffentlicht (Sehen und Wissen – Das Photographische im Romanwerk Emile Zolas, München: Fink 2002 und Photographische Momente bei Claude Simon, Würzburg: Königshausen&Neumann 2002, frz. übersetzung Claude Simon, moments photographiques, übers. von Laurent Cassagnau, Lille: Presses Universitaires du Septentrion 2007) und beschäftigt sich mit der ethnologischen Poetik von Michel Leiris (zus, mit Helmut Pfeiffer, Michel Leiris – Szenen der Transgression, München: Fink 2004).
1 Vgl. die Ausführungen in dem Buch von Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens – Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/New York: de Gruyter, 2003, vor allem das Kapitel über „Wörterbücher und Verwandtes“ (S. 142ff.)
2 „les mots qui me sèduisaient“ (Langage tangage ou Ce que les mots me disent, Paris: Gallimard, 1985, S. 145).
3 „plaisir de dèranger le langage“, ibd. S. 145.
4 Michel Leiris, Streichungen (Die Spielregel I), aus dem Französischen von Hans Therre. Mit einem Essay von Maurice Blanchot, München: Matthes & Seitz, 1982, S. 352 („sècouer les dès de la parole comme un cornet pour en faire jaillir des idèes au lieu de les employer à l′expression de pensèes prèexistantes“, Leiris, Biffures – La Règle du jeu I, Paris: Gallimard, 1948, S. 274.
5 „la photographie par la contrainte est la recherche spècifique de l′ouvroir“.
6 „Auf diesen Seiten geht es darum, die photographischen Arbeiten mehrerer Personen zu präsentieren. Jeden Monat wird ein Buchstabe des Alphabets ausgewählt und zu dem Buchstaben passende Themen vorgegeben. Am Ende des Monats werden die Bilder gezeigt, so daß man die Arbeiten im Rahmen eines gemeinsamen Thema vergleichen kann..“ (vgl. die Hinweise unter www. 200iso.com)
7 „un système de rappels, de reprises, de superpositions ou de correspondances entre des èlèments homologues et substituables, de telle sorte que sa principale apparence est celle du discontinu, de la juxtaposition anachronique, du montage“. (Miroirs d′encre, p. 9
8 Cf. http://ateliers.psychologies.com/ateliers.cfm/archives/170/5/Abecedaire.html
9 Vgl. Philippe Dubois, L′Acte photographique et autres essais, Paris: Nathan 1990.
10 Vgl. dazu das Buch von Clèment Chèroux, Fautographie – Petite histoire de l′erreur photographique, Paris: èditions Yellow Now 2003.
11 „rèintroduire dans la photo quelque chose qui relèverait de la mètaphore.“ Denis Roche, La Photographie est interminable (Paris: Seuil, 2007, S. 84.
12 „Procèdè de langage qui consiste à employer un terme concret dans un contexte abstrait par substitution analogique, sans qu′il y ait d′èlèment introduisant formellement une comparaison“ (ibd.)
13 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer – Bemerkung zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 111 und S. 96
14 L′Occhio della seppia. Les mystères de Naples, texte et photographies de Jeanne Frèdac, Naples: L′Insomniaque 2002, p. 23