Im April 2006 gab es den ersten Farbfilm. Ja, Film! Silbergelatine, analog, nicht digital, kein pausenloses, ständiges Klicken, kein automatisches Klicken ohne Blick. In einer Grenzstadt in der hintersten Lausitz fotografierte ich zum ersten Mal eine dieser aufgegebenen Fabriken, Überbleibsel einer eingefrorenen Zeitgeschichte, der Geschichte Ostdeutschlands. Nach einem ersten Spaziergang durch diese Ruinen stand mein Entschluss fest, zu fotografieren. Die ersten Besichtigungen waren bestimmt von der Freude am Augenschmaus, der Aufregung des Entdeckens, dem Prickeln der Gefahr und des Unbekannten. Ostdeutschland war grau, farblos, eintönig, das Klischee stimmt – von außen sah es so aus. Daher war die Überraschung groß, die zahlreichen intensiven Farben zu entdecken. Der Verfall prägt den Wänden Muster auf, lässt unwahrscheinliche gemalte Blumen erblühen, Jahrzehnte von sich überlagernden Schichten. Ostdeutschland hat den Mauern dieser Gebäude seinen Stempel aufgedrückt, viele von ihnen jedoch nicht gebaut. Die Bauten stammen aus anderen Jahrhunderten, aus einer Zeit, in der Rentabilität und Wirtschaft noch nicht allbestimmend waren. Aus einer Zeit, in der man die Absurdität noch nicht so weit trieb wie heute, immer wieder neu zu bauen, weil man sich für vergängliche Materialien und Schnellbauweise entscheidet. Welche Welt liegt zwischen diesen seit 20 Jahren leeren Gebäuden, die teilweise von Dschungel umgeben sind, aus dem sie, obwohl verlassen, gerade und kraftvoll herausragen, und dem Berliner Hauptbahnhof, bei dem ein Jahr nach Fertigstellung ein Bauelement abstürzte?
Der Farbigkeit der Entdeckung, dem Vergnügen an der Märchenwelt dieser Orte folgten Widerwillen und Ekel angesichts so viel Schönheit –vernachlässigt, weil ihr der Vermerk „nicht rentabel“ angehängt wurde. Egal ob Fabriken, Krankenhäuser, Kasernen oder Wohngebäude, es sind nicht ein paar wenige, die geschlossen und vergessen wurden, es sind tausende. Man geht durch Städte, in denen ganze Wohnstraßen menschenleer sind, sodass man sich schließlich fragt, welcher Tsunami sie heimgesucht hat. Das Wort absurd drängt sich hier auf.
Ich nutze diese Geschichte, um das Vergängliche aller Dinge, aller Lebewesen, aller Systeme festzuhalten. Diejenigen meiner Generation, die auf der anderen Seite der Mauer geboren sind, wuchsen in einem vermeintlich unveränderlichen System auf. Mit 20 erlebten sie seine Auflösung. Das Unmögliche geschah. Unser System ist ebenso vergänglich, wie es jenes war. Es liegt an uns, dies wahrzunehmen…
zur nächsten Wende
Jeanne Fredac
PS: Inzwischen haben wir die Mode der Stadterforschung, es gibt immer mehr Internetseiten, wo man die Orte aufgelistet findet. Sie geben diese Orte, die das Vergessen eher schützt als das Scheinwerferlicht, einfach preis. Das Erforschen wird einem vorgekaut, man weiß, wo man hingeht, was man entdecken wird, längst bevor man den Ort selbst betreten hat. In diesem Buch finden Sie keine geographischen Angaben. Der Forscher lässt sich vom Unbekannten, vom Zufall leiten. Er erlebt die Freude des Schatzjägers, er ist sich seines Zieles sicher, aber nicht seines Weges. Um sich zu finden, muss man sich verlieren können.